Flexibilität im Tagesablauf – Wahrnehmung kindlicher Lernsituationen

Ich möchte euch heute wieder von einer Szene aus einer Kita berichten, die mich zum Nachdenken angeregt hat: eine Kindergartengruppe geht vom Außenbereich rein, die Kinder ziehen sich aus und sollen in den Waschbereich gehen, um sich die Hände zu waschen.

Während wir im Waschraum sind und alle Kinder ihren Aufgaben nachgehen, beobachte ich ein Kind, das sehr VERTIEFT mit dem Handtuchständer spielt. Der Junge versucht konzentriert und ausdauernd das Handtuch durch ein Loch zu ziehen. Er scheint wie weggetreten, ganz versunken, mit sich eins, wie im Flow zu sein, als hätte er alles um sich herum vergessen. Während die anderen Kinder bereits alle fertig sind, spielt er noch immer am Handtuchständer.

Die Erzieherin ruft den Jungen, er solle mit in den Gruppenraum kommen, sie ERMAHNT ihn mehrere Male aber der Junge reagiert nicht. Sie kommt nach kurzer Zeit in den Raum, erst als sie ihn direkt anspricht, „erwacht“ der Junge aus seinem Spiel. Er ist ganz verwirrt weil seine Erzieherin ihn zum Waschbecken schiebt und ihm die Hände wäscht.

Mich hat die Situation traurig gemacht. Ich war so beeindruckt, wie vertieft er an dem Handtuchständer seine Fähigkeiten erprobte, sich eine Aufgabe gestellt und ohne Unterlass an der Lösung gearbeitet hat. Meine Erfahrung ist, dass in der Praxis oft für solche Situationen keine Zeit, keine Wahrnehmung oder schlicht keine Flexibilität im Tagesablauf vorhanden ist. Alles ist getaktet.

Wäre es für den Jungen nicht grandios gewesen, von der Fachkraft zu hören oder zu spüren: “oh ich sehe, du bist noch sehr beschäftigt. Lass dir Zeit, du kannst im Bad bleiben bis du fertig bist. Danach kannst du zu uns in den Gruppenraum kommen”. Mit diesen Worten würde man gleich mehrere positive Botschaften an das Kind senden:


1. ich sehe, was dir gerade wichtig ist

2. du hast ein Recht darauf deinem Lernbedürfnis zu folgen.

3. ich sehe, dass du noch Zeit brauchst

4. ich vertraue dir, dass du hier alleine bleiben kannst

5. ich vertraue dir, dass du selbständig den Weg in den Gruppenraum findest

6. du darfst selbst über dich bestimmen und selbst entscheiden, wann du kommst


Der Junge hätte zudem die Möglichkeit, selbständig zu werden, ein selbstgestelltes Problem zu lösen, Lösungsstrategien zu entwickeln, Ausdauer zu üben, Fingerfertigkeit, Konzentration, Empathie und Selbstvertrauen zu entwickeln. Sind das nicht alles Fähigkeiten, die wir unseren Kindern näher bringen wollen?!


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“Na Süße…” wenn Fachkräfte Kinder mit Worten liebkosen

“Na Süße…” so nannte ein Erzieher ein vierjähriges Mädchen. Spontan musste ich mich innerlich schütteln. Es kam ein Gefühl von EKEL in mir auf. Habe nur ich diese Abscheu gespürt oder auch das Mädchen selbst? Hätte ich mich vielleicht nicht so geekelt wenn es eine Erzieherin und kein Erzieher gewesen wäre?! Bin ich doch etwas zu sensibel? Warum reagierte ich so? Fragen, Fragen, Fragen. 

Eines beobachte ich jedenfalls immer wieder: Kinder werden in der Kindertagesbetreuung beinahe inflationär mit Kosenamen benannt:

“Püppi”, “Mäuschen”, “Schätzchen”, “Hase”, “Schnecke” usw.

Es rutscht uns plötzlich raus, die Kleinen sind ja auch zu süß, wir meinen es doch nur gut. Kennt ihr das? 

Die meisten denken sich nichts dabei, meinen es nicht böse, ist doch nur nett gemeint und schafft Nähe zum Kind. Das mögen die Kinder doch und mich mögen sie dann auch lieber. Auf diese Weise kann ich eine Beziehung aufbauen, die für die pädagogische Arbeit doch so wichtig ist. Aber ist das wirklich so? 

Kinder mögen meist keine Kosenamen

Die meisten Kinder, die ich frage, ob sie Kosenamen mögen, antworten mir mit einem klaren NEIN! Es wird dabei ihre Grenze überschritten.

Ihre Mimik, Gestik, ihr Verhalten, ein Wegdrehen, ein Gesicht verziehen, ein danach schnell Wegrennen lässt dann vermuten, dass ihnen diese Art der sprachlichen Zuwendung zu eng und grenzüberschreitend ist.

Wenn Kinder mit “Süße” oder “Püppi” angesprochen werden, hat das für mich doch ein wenig etwas von einem Kuscheltier, von etwas Kleinem, Niedlichen, einem Objekt, das liebkost wird.

Kinder wollen gleichwertig behandelt werden

Kinder wollen jedoch GLEICHWERTIG als vollwertige Persönlichkeiten gesehen werden, als Subjekte, die ihr Leben selbst gestalten können, die über sich selbst bestimmen können. Sie wollen als Karl, Louis, Mia, Fred und Emma gesehen und geschätzt werden. Sie wollen hingegen nicht als kleine süße Püppchen behandelt oder wie Objekte betätschelt werden. Sie wollen wie sie SELBST behandelt werden – mit all ihren Interessen, Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften. 

Wir können Kinder FRAGEN, ob sie die Liebkosungen mögen. Manche Kinder verlangen vielleicht sogar danach. Wenn sie ihr Einverständnis dafür geben, sind die verniedlichenden Bezeichnungen keineswegs zu kritisieren. Aber wenn Kinder sie allerdings nicht mögen, muss das respektiert werden! 

Und wenn es uns doch passiert?

Wenn uns doch eine gut gemeinte Liebkosung über die Lippen rutscht, haben wir die Möglichkeit unser BEDAUERN darüber auszudrücken.

“Oh ich weiß, eigentlich magst du so nicht genannt werden. Das kann ich gut verstehen. Ich bedauere dich “Mäuschen” genannt zu haben weil ich weiß, dass du das gar nicht magst. Ich versuche nächstes Mal darauf zu achten, denn mir ist es wichtig, dass deine Grenzen respektiert werden”

Auf dieser Grundlage können tolle Gespräche entstehen, die Kinder für ihr Leben bereichern. Ich kann mit dem Kind über seine eigenen GRENZEN und über das Wahrnehmen eigener Grenzen sprechen. Anhand dieses Alltagsbeispiels haben wir die Möglichkeit, Kinder darin zu bestärken, ihre eigenen Grenzen zu wahren und NEIN zu sagen.

Mehr zum Thema Grenzen und Wahrnehmung von kindlichen Grenzen findest du hier: https://www.beduerfnisorientierte-kinderbetreuung.de/nein-sagen-duerfen


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